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In einer markanten Kehre, mit der die neue Furkastrasse in den 1860er-Jahren bewusst zum Rhonegletscher hin geführt wurde, entstand 1882 das kleine Hotel Belvédère, initiiert vom damals 24-jährigen Josef Seiler (1858-1929). Josef war der Sohn von Alexander dem Älteren und Katharina Cathrein, seit 1882 Alleineigentümer des bedeutenden Hotelbetriebes, der fünfhundert Höhenmeter weiter unten in Gletsch lag. Bereits 1881 erwähnt der Baedeker den Bau des Hauses erstmals: «Die Strasse (…) senkt sich dann in grossen Kehren (an der obersten neues Whs.) hoch über dem gewaltigen r. herabkommenden Rhonegletscher…». Zwei Jahre später, in der Ausgabe von 1883, meldet der Reiseführer die Eröffnung: «An der zweiten Kehre das neue Hotel Belvédère von Herrn Seiler neu erbaut.» Mit dem neuen Gasthaus in schönster Aussichtslage konnten die Wünsche nach einer Unterkunft mit besonderer Panoramasicht und in der Nähe des Gletschers besser erfüllt werden. 1891 und 1893 wird das kleine Gebäude im illustrierten Posthandbuch mit einer Handzeichnung vorgestellt: Über einem Kellergeschoss liegt eine bewohnte Etage, unter dem Satteldach findet sich auf der Giebelseite ein Fenster, Dachlukarnen fehlen. Die Bettenzahl des Hauses ist nicht bekannt, sie dürfte aber sehr bescheiden gewesen sein. Der Start des neuen Betriebs schien sich sehr schwierig zu gestalten: 1889 wird das Belvédère im Reiseführer von Baedeker nicht mehr genannt, in den Ausgaben von 1891 und 1893 sogar explizit als geschlossen bezeichnet.
Nach einer längeren Schliessung wagte der initiative Josef Seiler zu Beginn der 90er-Jahre einen Neustart am Gletscher. Zu dieser Zeit war die Passstrasse über den Grimselpass im Bau und ganz allgemein glänzte die touristische Entwicklung mit einem steilen Aufwärtstrend. 1894 wird das Belvédère erstmals im Steuerregister der Gemeinde Oberwald genannt, auf deren Territorium es liegt, was die bauliche Erweiterung belegt. Seit 1895 taucht «das kleine Belvédère» wieder regelmässig in den bekannten Reiseführern auf, im «Album der Schweiz» wird das Haus in diesem Jahr als «vergrössert und verbessert» besonders angepriesen. Mit diesem Umbau entstand das Gebäude, das auf den frühesten bekannten Ansichtskarten und in der ersten Hotelwerbung ersichtlich ist: ein Steinbau mit Satteldach, ausgeschmückt mit Zierformen im Schweizer Holzstil am Dachrand. Zwei Stockwerke mit fünf Fensterachsen liegen talseitig, auf der Bergseite ragt nur das obere Geschoss aus dem Gelände. Ein drittes Geschoss liegt unter dem Dach, wo die neu ausgebauten Zimmer mit Lukarnen belichtet sind. Je eine Türe in der Längs- sowie in der Stirnfassade führen ins Innere, wo an einem Korridor kleinere und grössere Zimmer aufgereiht sind, zu Beginn weder mit Licht noch mit fliessendem Wasser ausgestattet. Das auf einer frühen Fotografie sichtbare einzige Kamin deutet auf wenige Feuerstellen, wohl in der Küche sowie im Cheminée des Speisesaals. Ein Balkon ist auf der Längsseite bei der Strassenkurve zu erkennen.
Das Belvédère am Rhonegletscher gehört in der Schweizer Hotellerie zu den Bauten der letzten bedeutenden Entwicklungswelle, die in der ganzen Schweiz in den 1880er-Jahren einsetzte. In dieser Zeit stieg die statistisch erfasste Hotelzahl im Wallis von 79 Betrieben 1880 auf 321 kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Sie vervierfachte sich also innerhalb von gut drei Jahrzehnten. Die Bettenzahl erhöhte sich in der gleichen Zeit im Wallis von knapp 4’000 auf über 15’000. Es war die Zeit des beinahe grenzenlosen Hotelbaus, im Wallis wie in der ganzen Schweiz. Die Gebirgshotels nach 1880 hatten nichts mehr gemeinsam mit den kleinen Gebäuden aus den Frühzeit der touristischen Erschliessung. Die neuen Bauten der Belle Époque charakterisierten sich mehrheitlich als Hotel der gehobenen Luxusklasse, wie sie zu dieser Zeit beispielsweise an den Seeufern zahlreich entstanden. Diese Sommerhotels in der Walliser Bergwelt dienten einer verwöhnten Kundschaft in der Regel als Aufenthaltsort für mehrere Wochen Sommerfrische. Geschätzt wurde dabei vor allem die Aussichtslage, die es den Gästen erlaubte, das prächtige Panorama der Bergwelt zu geniessen. Mit dem Fernrohr beobachtete die vornehme Hotelgesellschaft nun mit grosser Anteilnahme die Eroberung der Drei- und Viertausendergipfel und immer häufiger diskutierten die Hotelgäste über die nahen Berge, die sie immer seltener selber bestiegen. Markierten die 1830er-Jahre eine Frühphase für wagemutige Bergpioniere, charakterisierten sich die 1860er-Jahre als hektische Epoche für die ambitionierten Gipfelstürmer. Die 1890er-Jahre hingegen lassen sich als Zeit der einflussreichen Berggeniesser bezeichnen.
Die gute Aussichtslage schien sich im ausgehenden 19. Jahrhundert auch für das Belvédère zu bewähren. In den Jahren 1903/04, als die Hotellerie im ganzen Land zu grossen Höhenflügen ansetzte, wagte Josef Seiler nochmals einen Ausbau, der 1904 vollendet wurde. Dabei wurde das ehemals einfache Haus mit Satteldach um vier Fensterachsen nach Süden verlängert, zwei zusätzliche Stockwerke aufgebaut und das Gebäude mit einem charakteristischen Mansartdach eingedeckt. Dabei erhielt das Belvédère sein heutiges charakteristisches Aussehen. Die Vergrösserung des Hauses widerspiegelt sich auch in den Reiseführern: Baedeker nennt 1907 erstmals 90 Betten, Joanne bereits ein Jahr zuvor. In Anbetracht der Verzögerungen bei der Überarbeitung der Reiseführer – die Objekte wurden nicht jährlich besucht und neu beurteilt – liefert diese Korrektur eine passende Erklärung für den vorangegangenen Umbau.
Mit dem neuen Mansartdach dokumentierte die fortschrittliche Hoteliersfamilie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre «Präsenz am Markt», wie man heute sagen würde: Diese ursprünglich in barocker Zeit eingeführte Dachform gehörte im späten 19. Jahrhundert zum neuzeitlichen Architekturkleid für repräsentative Hotelbauten, am Seeufer wie im Gebirge. Das erste Mansartdach im Schweizer Hotelbau der Belle Époque erhielt das Grand Hotel in Vevey 1867. Danach verbreitete sich diese Dachform beim Hotelbau in allen Regionen der Schweiz. Im Wallis findet sich neben dem Belvédère am Furkapass beispielsweise der grosse Erweiterungsbau beim Hotel Viktoria in Zermatt von 1906-1908, ebenfalls ein Bau der Familie Seiler. Das Mansartdach galt zu dieser Zeit offenbar auch familienintern als «Prototyp» für die fortschrittliche Gestaltung eines Hotels.
In der Zeit des beinahe grenzenlosen touristischen Aufschwungs im frühen 20. Jahrhundert suchte Hotelier Seiler auch den Anschluss an das schweizerische Eisenbahnnetz. Tatkräftig unterstützte er den geplanten Bau der Eisenbahnlinie von Brig über den Furkapass Richtung Andermatt, mit Anschluss in Göschenen an die 1882 eröffnete Gotthardbahn. Als die ersten Projekte zum Bau einer Furkabahn auftauchten, ersuchte er 1909 die Bundesversammlung um eine Konzession für eine Drahtseilbahn von der geplanten Bahnstation Mutbach beim Portal des Furkatunnels zu seinem Hotel Belvédère. Weil sich die Realisierung der Furkabahn aber ungewöhnlich lange verzögerte, geriet auch das Projekt einer Drahtseilbahn zum Hotel Belvédère in Vergessenheit. Nach den Qualen des Ersten Weltkriegs tauchte das Projekt nicht mehr aus der Versenkung auf.
Der Erste Weltkrieg, der gut ein Jahrzehnt nach den letzten Ausbauetappen in Gletsch und beim Belvédère ausbrach, schien dem umfangreichen Hotelimperium der Familie Seiler vorerst keinen grossen Schaden zuzufügen, dank guten Reserven war man noch resistent gegen den wirtschaftliche Niedergang. Auch die erste Krisenzeit, die in den 1920er-Jahren von einem kurzen Aufschwung unterbrochen wurde, konnte offenbar noch schadlos überstanden werden.
In den 1920er-Jahren brachten zudem neue Verkehrsmittel ungewöhnlich viele neue Besucher in die Gegend des Rhonegletschers. Wie ein Lichtblick erschien in diesen schwierigen Jahren die Eröffnung der ersten alpinen Postautolinien im Juli 1921, zu denen, zusammen mit Oberalp und San Bernardino, auch die Grimsel- und die Furkaroute gehörten. Mit dieser technischen Pionierleistung konnte sich Gletsch wiederum als Verkehrsknotenpunkt behaupten. In der ersten Betriebszeit von zweieinhalb Monaten wurden über Grimsel und Furka mehr als 16’000 Fahrgäste befördert. Zu dieser Zeit nahm sich auch eine Auffanggesellschaft der inzwischen in Konkurs geratenen Furkabahn an. Unter der Initiative der Visp-Zermattbahn und mit finanzieller Unterstützung durch den Bund wurden die jahrelang unterbrochenen Bauarbeiten zwischen Gletsch, Andermatt und Disentis wieder aufgenommen. Im Juli 1926 konnte die neue Furka-Oberalp-Bahn ihren Betrieb auf der ganzen Länge zwischen Brig und Disentis aufnehmen. Nach dem Bau der Verbindungslinie zwischen Brig und Visp begann im Sommer 1930 die Geschichte des Glacier-Express mit direkten Wagen zwischen Zermatt und St. Moritz. Bis zur Eröffnung des Furka-Basistunnels im Sommer 1982 hielt der inzwischen legendär gewordene «langsamste Schnellzug der Schweiz» in der Sommersaison täglich in Gletsch und verlieh dieser alpinen Einsamkeit während einigen Sommerwochen den Glanz eines vorzüglich erschlossenen Hotelstandorts im Hochgebirge.
In den 30er-Jahren propagierte die Familie Seiler Gletsch als Zentrum für die Bergsteigerei. 1935 gründete sie eine eigene «École d’Alpinisme», die Ausbildungslehrgänge und Kletterwochen von Gletsch und dem Hotel Belvédère aus organisierte. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gegend am Rhonegletscher dank Seilers Initiative zu einem bedeutenden Treffpunkt von Gletscherbesuchern und Bergsteigern. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach das Zeitalter des individuellen Autotourismus an. Der Rhonegletscher erhielt bei den automobilistischen Passfahrten eine besondere Vorzugsstellung, die in Meyers Reisehandbuch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kam: «Nirgends in der Schweiz kann man wie hier mit einem Wagen so nahe an den Rand eines Gletschers fahren» hiess es dort in überschwänglicher Euphorie. In den frühen 50er-Jahren organisierte die geschäftstüchtige Hoteliersfamilie Sternfahrten und Rallyes für Automobilisten zum Rhonegletscher. Zudem konnten sich im Zeitalter des wirtschaftlichen Aufschwungs immer mehr Leute das Vergnügen einer Passfahrt mit Halt beim Rhonegletscher leisten. Auf der Rückseite einer Ansichtskarte mit dem Hotel Belvédère fand sich mit Bleistift fein säuberlich notiert: «Andenken an unsere schöne Autofahrt am 10. Juli 1949.» Der zunehmende Automobilverkehr zeitigte aber langfristig auch negative Auswirkungen. So mussten die alten Stallgebäude beim Hotel Belvédère in den 1960er-Jahren dem Strassenausbau weichen. Mit den immer besseren Strassen und den leistungsfähigeren Fahrzeugen sank aber auch die Zahl der Gäste in den alpinen Hotels. Die frühere Zwei- oder Mehrtagesreise über die Pässe wurde zur eintägigen Rundtour. In den Hotels, in denen man früher übernachtet hatte, genoss man im besten Fall noch ein Mittagessen oder sogar nur noch einen Tee. Die Zahl der Hotelgäste in Gletsch und im Belvédère sank dadurch rapid. Zusammen mit Nachfolgeproblemen stellte sich deshalb für die Hotelbetriebe der Familie Seiler am Rhonegletscher in den 1980er-Jahren die Existenzfrage.
Im Jahr 1985 erwarb der Kanton Wallis die Aktien der inzwischen durch die Familie Seiler gegründeten Immobilien-Gletsch AG. Die langfristige Absicht war gegeben: im Talboden von Gletsch sollte dereinst ein neuer Speichersee für die Stromerzeugung gebaut werden. Die Hotels am Rhonegletscher blieben deshalb in den 1980er-Jahren während einiger Zeit geschlossen. Als der Widerstand gegen das Kraftwerk-Projekt wuchs und es sich kaum als durchführbar erwies, wurde es fallen gelassen. Der Kanton Wallis war nun aber zum Hoteleigentümer geworden. Mit Hilfe eines Pächters betreibt der Staat seither das Hotel Glacier du Rhône in Gletsch selber. Die Liegenschaft des Belvédère hingegen verkaufte er 1988 an die Familie von Professor Carlen aus Brig, die bereits seit Generationen Rechte und Eigentum in der Gegend besass. Seither wird das Haus als erfolgreiches Berghotel geführt, in dem jeden Sommer eine beachtliche Kunstausstellung stattfindet. Zudem wird das Haus mit seiner wertvollen Substanz wieder Schritt für Schritt in den historischen Zustand zurückgeführt.
(Text aus: Alpine Hotels zwischen Rhonequelle und Furkapass.
[Schriften des Stockalperarchivs in Brig, Heft 44] Brig 2008.)